Pressebericht der HZ
vom 7. Juli 2017 von N. Rau
Aus der Traum
Die Schauspiel-AG des
Schiller-Gymnasiums zeigt mit „Endstation Sehnsucht“ ungeschminkt eine
Gesellschaft, die nach dem Gesetz des Dschungels lebt. Am Ende gewinnt
der Stärkere.
Der Grat zwischen Realität
und Illusion ist schmal auf der Theaterbühne im WCM-Gebäude. Ebenso der
zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Blanche DuBois, glänzend gespielt von
Maike Otto, tänzelt in Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“
zwischen beiden Welten hin und her, hält sich letztlich aber lieber auf
der dunklen, verborgenen Seite und fernab des realen Lebens auf. Keiner
soll sehen, wie alt sie ist, keiner soll sehen, dass ihre jugendliche
Schönheit schwindet. Keiner soll ihr wahres Gesicht sehen, das Gesicht
einer Lügnerin. Doch sie macht die Rechnung ohne den polnischen
Einwanderer Stanley Kowalski. Der ordinäre Kraftprotz, gespielt von
Hannes Langhans, steht ihr im Weg, als sie bei ihrer Schwester in New
Orleans ein letztes Mal versucht, ihr Leben wieder gerade zurücken.
Blanche und ihre Schwester Stella sind im amerikanischen Süden in
wohlbehüteten Verhält-nissen auf dem traumhaften Gut „Belle Rêve“
aufgewachsen. Doch mit dem Südstaaten-Adel geht es während der
Nachkriegszeit zugrunde, während die durch Einwanderer geprägte
Industrienation die Leiter des Wohlstands immer weiter hinaufklettert.
Blanche verliert das Gut und alles, was sie besaß. Übrig ist einzig der
Inhalt ihres Koffers: ein paar hübsche Kleider, ein glänzendes Diadem.
Zwei Welten in
zwei Zimmern: Mit dem Einzug in die Zweizimmer-wohnung von Stella
und ihrem Ehemann Stanley prallen zwei Welten aufeinander, lediglich
getrennt durch einen dünnen Vorhang. Eine Schnittstelle: der Alkohol.
Sowohl Stanley als auch Blanches Maske bröckelt ein wenig, wenn die
Figuren zum Schnaps greifen. Die zweite Schnittstelle: das Geld. Maike
Otto und Hannes Langhans verstehen es, das Publikum von ihrer Figur zu
überzeugen. Er, der etwas dümmliche Arbeiter, und sie, die intelligente,
aber verkorkste Adlige, beide auf der Suche nach dem großen Geld. Beide
können die Zuschauer durch ihre Skrupellosigkeit erschrecken, bringen
sie aber im nächsten Moment wieder zum Lachen. Zu irrwitzig sind die
Vorstellungen von Blanche, zu überzogen ist das Macho-Gehabe von
Stanley. Zwischen den Stühlen steht Stella, gespielt von Charlotte
Bendler, die sich in beiden Welten zurechtgefunden hat und wegen ihrer
Gutmütigkeit wie eine Schachfigur hin- und hergeschoben wird. Gewalt
gegen sie und in ihrem Umfeld ist für sie schon zur Normalität geworden.
Gewalt übrigens, die von den Schülern ganz ernst und ohne Zurückhaltung
mit der ein oder anderen schallenden Ohrfeige auf die Bühne gebracht
wird. Würden die Schauspieler nicht so überzeugend spielen, es würde
abstrus wirken, dass noch so junge Erwachsene so tiefgreifende Gefühle
wie Begierde, Neid, Hass und Sehnsucht verkörpern. Doch es funktioniert
– und die Spannung wird aufrechterhalten. Bei aller Ernsthaftigkeit tun
allerdings auch die witzigen Dialoge wahrlich gut. Maike Otto hat als
Blanche, die entgegen ihres Namens eine ganz und gar nicht weiße Weste
hat, über zwei ein viertel Stunden die mit Abstand meiste Sprechzeit.
Sie muss wütend sein, empört, gleichzeitig zerbrechlich und höflich, mal
ängstlich und mal überlegen: Eine Leistung, vor der man den Hut ziehen
muss. Text-Hänger? Fehlanzeige. Und zwar bei allen Spielern.
Wer ist Opfer, wer
Täter? Und so taucht das Publikum voll und ganz ein in die
amerikanische Nachkriegszeit und fragt sich ständig: Wer ist Opfer, wer
Täter? Wer Gewinner, wer Verlierer? Ist uns Stanley mit seinen
realistischen und simplen Ansichten und seinen immer wieder
auftauchenden emotionalen Momenten sympathischer als die abgehobene
Möchtegern-Diva Blanche, die mit Hängen und Würgen einen Mann verführen
will, der ihr aus der Not hilft? In den Dialogen selbst findet man immer
wieder Antworten: „Tarantula hieß das Hotel, in das ich meine Opfer
gelockt habe“, sagt Blanche über frühere Zeiten. Im Netz zappeln sehen
würde sie gerne auch den anständigen Harold Mitchell (Franciso Virolde
Lopez), der allerdings noch rechtzeitig Blanches Maske fallen sieht.
Mehr und mehr steigert sie sich in den Wahnsinn hinein und wird am Ende
selbst Opfer von Stanley, sogar in sexuellen Belangen.
Alles gipfelt in einer
schier unerträglichen Entscheidung, die Stella treffen muss: Blanche
oder Stanley? Selbst bei der unübersehbaren Tragweite ihrer Entscheidung
bleibt Charlotte Bendler ihrer Rolle der unscheinbaren Schwester und
Ehefrau treu und lässt die Dinge einfach mit sich geschehen. Stanley
nimmt das Ruder in die Hand und versetzt Blanche mit deren Einweisung in
eine psychiatrische Klinik den letzten Stoß. Am Ende steht nur eines
fest: Stella kann einem in jeder Hinsicht leid tun als Marionette, die
jetzt mit Baby mehr denn je an Stanley gefesselt ist. Stanley und
Blanche hingegen verschwimmen im Dunkeln und es vermochte wohl keiner
der rund 100 Besucher zu sagen: War das ein gerechtes Ende?